Umfrage von Oliver Wyman zu Warenknappheit im Einzelhandel
Über dem deutschen Einzelhandel braut sich ein Unwetter zusammen. Neben regulatorischen Erschwernissen und Kostensteigerungen infolge der Corona-Pandemie bringen zum Jahresauftakt vor allem Lieferengpässe etliche Non-Food-Händler in erhebliche Schwierigkeiten. Bereits im wichtigen Weihnachtsgeschäft verzeichneten Händler deutliche Umsatzausfälle durch die schlichte Nichtverfügbarkeit von Waren, wie eine Konsumentenbefragung der Strategieberatung Oliver Wyman belegt.
So konnten 49 Prozent der Befragten ihr Wunschprodukt nicht finden. Die Folgen: Während im Lebensmittelhandel viele auf andere Produkte auswichen und zur Konkurrenz abwanderten, hat im Non-Food-Bereich ein erheblicher Anteil die geplanten Ausgaben ersatzlos gestrichen. Für viele Händler geht es um die Existenz, warnen die Handelsexperten von Oliver Wyman: Gerade für große Handelsketten im Bereich Elektronik, Textil oder Spielwaren erweist sich das auf Volumenstärke getrimmte Geschäftsmodell in der Krise als riskant.
Seit der Vorweihnachtszeit scheinen für beliebte Geschenke neue Gesetze zu gelten. Spielekonsolen und hochwertige Küchenmaschinen etwa waren heiß begehrt, aber ungewöhnlich knapp – die Preise stiegen, vielerorts waren sie gar ausverkauft. „Die Menschen wollten sich etwas gönnen, aber fanden nicht, was sie suchten“, sagt Rainer Münch, Partner und Leiter der europäischen Praxisgruppe Handel und Konsumgüter bei Oliver Wyman.
Eine repräsentative Online-Befragung der Strategieberatung rund um den Jahreswechsel zeigt ein für den Handel alarmierendes Bild: Knapp die Hälfte (49Prozent) der Befragten in Deutschland gaben an, dass ihre gewünschten Produkte nicht verfügbar waren. In diesem Fall verzichteten 31 Prozent der Enttäuschten auf den Kauf oder reduzierten zumindest ihre Ausgaben. „Das ist faktisch entgangener Konsum, der nicht mehr nachgeholt wird“, sagt Münch. Auch in den Nachbarländern zeigt sich ein ähnliches Bild: So gaben 54 Prozent der Befragten in Österreich und 56 Prozent in der Schweiz an, dass ein gesuchtes Produkt nicht verfügbar war.
Mit Blick auf die Nichtverfügbarkeit in verschiedenen Warengruppen liegen die Elektroartikel mit 40 Prozent der Nennungen vorne, gefolgt von Lebensmitteln und Getränken mit 28, Spielwaren mit 25 und Textilien und Schuhen mit 22 Prozent. Zugleich trieb die Knappheit die Preise: 68 Prozent der Befragten nahmen diese als „spürbar gestiegen“ wahr. 31 Prozent empfanden das stationäre Einkaufserlebnis in Corona-Zeiten zudem als „weniger schön“ – und gaben dies als Grund für ihre Kaufzurückhaltung an. 19 Prozent nannten Sorgen um die Zukunft als spezifisches Hemmnis.
Coronabedingte Lieferprobleme entstehen unter anderem durch Unterbrechungen der globalen Warenströme etwa infolge geschlossener Häfen oder Produktionsstopps bei Zulieferern. Hiervon betroffen sind neben Elektronikartikeln auch Spiel- und Textilwaren, da sie häufig über globale Lieferketten verfügen. „Eine Reihe von Einzelereignissen haben aufgrund der heutigen Globalität der Lieferketten das Gesamtsystem aus dem Gleichgewicht gebracht. Das bringt nun auch den deutschen Einzelhandel in Bedrängnis“, bestätigt Jens Torchalla, Partner bei Oliver Wyman. Die Folgen sind teils dramatisch: „Insbesondere für traditionelle Händler haben sich Anpassungsdruck und -geschwindigkeit nochmals erhöht. Einige Unternehmen müssen ihr Geschäftsmodell zügig und umfassend überprüfen oder sogar restrukturieren, obwohl sie in normalen Zeiten noch mehrere Jahre gut und strategisch tragfähig aufgestellt gewesen wären.“
Kostendruck durch Pandemiebekämpfung
Die kritische Lage der Händler setzt sich für Münch aus einem Dreiklang zusammen: Zu den Versorgungslücken durch Knappheit und gestörte Lieferketten kommen weitere pandemiebedingte Probleme. So treibt der Aufwand für Hygiene, Eingangskontrollen, Pandemiesicherheit der Mitarbeiter sowie das Vorhalten von Notfallplänen die Kosten. Drittens erschweren generelle Kostensteigerungen, etwa bei den Energiekosten oder Verbrauchsmaterialien wie Papier, das Geschäft.
Der deutsche Markt gerät aufgrund preissensibler Verbraucher und der historisch starken Position des Einkaufs plötzlich ins Hintertreffen – denn Hersteller können knappe Mengen profitabler in anderen Märkten vertreiben. Zudem werden diejenigen Vertriebskanäle bevorzugt, die aufgrund zusätzlicher Serviceerträge höhere Einkaufspreise zu zahlen bereit sind. Insgesamt fehlen den Herstellern somit Anreize, die knappe Ware über das Massengeschäft zu vertreiben.
„Bisher haben führende Handelsketten ihre hohen Volumina immer in tiefere Einstandspreise übersetzen können. Jetzt dreht sich das Spiel – und der Produzent bedient tendenziell die weniger großen Kunden zuerst.“ Für 2022 erwartet daher auch Torchalla eine Verschärfung der Lage: „Wir müssen uns auf ein Handelsjahr einstellen, in dem die üblichen Gesetze der Marktwirtschaft zum Teil ausgehebelt werden.“ Parallel läuft die Transformation in Richtung Online-Shopping weiter und viele Verbraucher halten angesichts von Zukunftssorgen das Geld beisammen. „Eine Entspannung der Lage ist für den stationären Handel nicht in Sicht.“