„Das größte Problem ist die Unsicherheit“

Interview mit dem HDS/L-Vorsitzenden Carl-August Seibel

Wie geht die Schuh- und Lederwarenindustrie mit den Folgen der Corona Krise um? Welche Strategien wurden entwickelt? Welche Maßnahmen bereits realisiert? Wie reagiert die Politik? Gibt es erste Erfolge? Antworten auf drängende Fragen gibt Carl-August Seibel, der Vorsitzende des Bundesverbands der Schuh- und Lederwarenindustrie (HDS/L) in einem Interview.

Vor drei Wochen sind die Maßnahmen der Bundesregierung zur Eindämmung des Coronavirus verhängt worden, mit kurzer Ankündigung, fast wie ein Tsunami wurde die gesamte deutsche Wirtschaft davon erfasst. Nicht zuletzt durch die Schließung des stationären Fachhandels gehört die Schuh- und Lederwarenbranche zu einer der besonders tragisch betroffenen Branchen. Wie haben Sie das als Unternehmer erlebt?
Carl-August Seibel: Der stationäre Handel ist durch die Geschäftsschließungen natürlich massiv von der Coronakrise betroffen. Die Kunden bleiben aus. Die Nachfrage, mit der gerade jetzt zum Saisonstart und bei der guten Wetterlage, Umsätze erzielt worden wären, ist quasi nicht vorhanden. Auch die zum Teil sehr kreativen Ideen der Händler, ich denke da z.B. an Instagram-Aktionen oder Lieferservice, können diesen Ausfall nicht ersetzen. Leider.

Neben Ihrer Tätigkeit als Unternehmer sind Sie ja auch Vorsitzender des HDS/L. Der HDS/L als Interessenvertreter war und ist in dieser stürmischen Zeit sicherlich besonders gefordert?
Carl-August Seibel: Das kann man wohl sagen. Die Mitgliedsunternehmen waren schlagartig mit extremen Situationen konfrontiert und benötigten alle gleichzeitig Hilfe und Unterstützung.

Können Sie uns näher erläutern, um welche Art von Hilfe es sich handelt?
Carl-August Seibel: Dabei geht es in erster Linie um verifizierte Information. In unseren Rundschreiben haben wir die Hersteller über die Auslegung der neuen Anordnungen informiert. Welche Regelungen und Gesetze gelten. Die Telefone standen nicht still. Zugleich galt es aber auch an die Gesundheit der Mitarbeiter zu denken und die Empfehlungen der Regierung zu befolgen, soziale Kontakte zu vermeiden. Unser Verband war sehr gut vorbereitet und hatte schon Wochen vorher für alle Mitarbeiter Home-Office-Arbeitsplätze eingerichtet. Außerdem hatte der HDS/L schon frühzeitig einen Plan in der Tasche, wie zunächst bis Ostern die Geschäftsstellen in Berlin, Offenbach und Pirmasens kontinuierlich erreichbar und besetzt, das heißt alle Mitarbeiter zu erreichen sind.

Zurück zu den Unternehmen des Verbandes. Gab es zu Beginn besondere Themen?
Carl-August Seibel: Auf jeden Fall. Die Unternehmen haben hohen Beratungsbedarf, wie Kurzarbeit zu beantragen und was dabei zu beachten ist. Das Thema Kurzarbeit hatte ja seit den so genannten „Nullerjahren“ keine Rolle mehr gespielt. Aber jetzt haben wir die Situation, dass fast alle Unternehmen gleichzeitig das Mittel der Kurzarbeit nutzen müssen. Doch damit nicht genug: Auch Fragen zu Urlaub, Überstundenabbau oder zu Fehlzeiten durch Schließung der Kita-Plätze müssen beantwortet und Lösungen gefunden werden.

Welche Fragen beschäftigen die Unternehmen über die internen Probleme hinaus?
Carl-August Seibel: Hier geht es vor allem um juristische Fragen. Ich denke da an erster Stelle an die Geschäftsbeziehungen mit unseren Handelspartnern. Im Zusammenhang mit den Geschäftsschließungen mussten wir uns beispielsweise intensiv mit Themen wie Stornos, Lieferstopps und Valutaforderungen beschäftigen. Der HDS/L hat hierzu wertvolle Rechtsberatung gegeben und die Mitglieder kurzfristig mit Rechtsgutachten versorgt.

Der Verband ist ja nicht nur Dienstleister, er kann als Interessenvertreter Lobby-Arbeit für die Branche machen. Welche Aktivitäten gab bzw. gibt es in diesem Bereich?
Carl-August Seibel: An einer Vielzahl von Initiativen, die momentan in Berlin versuchen Einfluss auf die politischen Entscheider zu nehmen, ist der HDSL aktiv beteiligt. Hier gilt die Task Force des ZGV mit Günter Althaus an der Spitze zu nennen, der Aufruf der ANWR für ein Globaldarlehen an die Verbundgruppe oder auch der Vorstoß des Dachverbandes des HDS/L, textil+mode, der mit seiner Präsidentin Ingeborg Neumann an der Spitze einen direkten Draht zu vielen Ministerien hat. Ziel all diesen Handelns ist, schnell und unbürokratisch klare Hilfen für den Mittelstand in Form von Direktzuschüssen, KfW-Darlehen und schnellen Vollbürgschaften des Bundes zu bekommen.

Gibt es bereits Reaktionen seitens der Politik?
Carl-August Seibel: Dankenswerterweise ja. Wie bereits erwähnt profitiert der HDS/L auf politischer Ebene vom Umzug nach Berlin und von den engen Kontakten zu den Ministerien über die Dachverbände t+m und BDI. Schon in der ersten Woche der Coronakrise haben wir in einem Brief an die Bundesminister Altmaier und Scholz um die dringende Unterstützung der ZR-Banken gebeten. Für uns war schon früh erkennbar, dass KfW-Programme nicht ausreichen. Vor allem kleinere Schuh- und Lederwarenhersteller kommen über die Hausbanken nicht an die Programme, deshalb haben wir schon am 20. März Zuschüsse und Direktbeihilfen gefordert. Ingeborg Neumann, die Präsidentin von textil+mode hat das Gespräch mit Staatssekretär Dr. Ulrich Nußbaum aufgenommen und die entsprechenden Forderungen gestellt. An diesem Wochenende hat die EU grünes Licht für solche Instrumente durch die Mitgliedsstaaten bis 800.000 Euro zugestimmt. Das ist ein erster, großer Erfolg. Und am Montag hat die Bundesregierung ein entsprechendes Programm auf nationaler Ebene aufgelegt.

Herzlichen Glückwunsch! Kommen wir zum Handel. Sie sprachen eben bereits die enge Zusammenarbeit mit den Verbundgruppen an. Welche Maßnahmen sind da geplant?
Carl-August Seibel: Der HDS/L arbeitet gemeinsam mit dem BDSE und den Verbundgruppen an einem speziellen Programm für die Händler. Dabei definiert jede Marke bzw. jeder Hersteller die durchlaufenden Artikel/Modelle aus der aktuellen, jetzt gelieferten Frühjahr/Sommer Kollektion für die nächste Saison Frühjahr/Sommer 2021. Diese Info wird in den nächsten Wochen direkt oder über die Verbundgruppen an die Händler übermittelt. Dies erlaubt es dem Handel, diese Schuhe ggfs. gleich für die nächste Saison zu verplanen und den Warendruck für die durch die Geschäftsschließungen verkürzte Verkaufszeit zu senken. Die Finanzierung der eingelagerten Ware muss dann über KFW-Kredite und/oder die Verbundgruppen gewährleistet sein. Die Industrie wird ebenfalls die für die Nachorder vorgesehene Ware einlagern und für die Saison Frühjahr/Sommer 2021 reservieren.

Zum Saisonstart ist die Nachfrage nach neuen Schuhen besonders groß und der Handel könnte zu regulären Preisen verkaufen. Wie sehen Sie die Situation, wenn die Geschäfte irgendwann wieder öffnen? Ist eine Rabattschlacht zu befürchten?
Carl-August Seibel: Das ist zu vermuten. Es wäre natürlich vorteilhaft, wenn die reguläre Verkaufssaison auf die Monate Juni und Juli erweitert würde, um dem Handel die Möglichkeit zu geben, über die Sommermonate regulär noch möglichst viel Ware verkaufen zu können. So könnte auch der lang diskutierte Schritt, die Verkaufszeit endlich den Wetterbedingungen und der Jahreszeit anzupassen, in die Realität umgesetzt werden. Hierzu bietet sich eventuell vorab auch ein Gespräch mit den Wettbewerbsbehörden an.

Was hieße dieses Modell für die Herbst/Winter-Saison? Gäbe es da auch Anpassungen seitens der Industrie und ihren Auslieferungen?
Carl-August Seibel: Ja. Um diese Verschiebung des Verkaufszeitraums zu unterstützen, würde die Ware für den kommenden Herbst/Winter nicht vor dem 1. August 2020 von der Industrie ausgeliefert werden. Damit würde einerseits der Handel von frühzeitigen Wareneingängen für Herbst/Winter 2021 entlastet und die Zahlungsziele würden nach hinten geschoben. Andererseits würde es der Industrie helfen, Verspätungen in der Produktion, die durch Corona weltweit entstanden sind, wieder aufzuholen. Dies ist natürlich auf die jeweiligen Warengruppen abzustimmen.

Das sind gute Ansätze. Aber reicht das? Nicht nur in diesen schwierigen Zeiten ist der viel beschworene Datenaustausch zwischen Handel und Industrie ein wichtiges Tool. Wie weit sind die Lösungen in diesem Bereich vorangeschritten?
Carl-August Seibel: Der HDS/L, gemeinsam mit den Verbundgruppen, arbeitet mit Hochdruck an der schon lange diskutieren Branchenlösung einer digitalen Datenplattform, um zukünftig einfach, preiswert, schnell und in rechtlich zulässiger Weise Daten zwischen Industrie und Handel auszutauschen. Hier liegt der Fokus auf dem Begriff „Branchenlösung“, also einem gemeinsamen Format, das von allen Teilnehmern unterstützt wird und damit erhebliche Kosten- und Zeitersparnisse bringt, da nicht unendlich viele Individuallösungen teuer programmiert und betrieben werden müssen.

Was ist aus Ihrer Sicht das größte Problem in der Coronakrise?
Carl-August Seibel: Es ist die Unsicherheit, wie lange es dauert und welche Maßnahmen in den nächsten Wochen kommen. Wir werden jeden Tag mit neuen Situationen und Krisen konfrontiert, wie z.B. diese Woche das Schutzschirmverfahren von Karstadt/Kaufhof. Der Warenhauskonzern ist ja ein wichtiger Kunde, vor allem für die vielen Hersteller von Kleinlederwaren, Taschen und Koffern. Auch hier wollen wir noch vor Ostern Informationen geben, was von Lieferantenseite in einem solchen Verfahren zu beachten ist.

Was wünschen Sie sich und der Branche für die nähere Zukunft?
Carl-August Seibel: Ich wünsche mir eine Lockerung der Maßnahmen und baldige Normalisierung der Situation, damit unsere Industrie und der Handel wieder nach vorne schauen können. Damit wir endlich wieder über die Faszination des Produktes, über Mode und Qualität reden und diskutieren können. Abschließend möchte ich noch betonen, dass sich besonders in solchen Krisenzeiten zeigt, wie wichtig ein starker Verband ist. Anstelle von Einzelmeinungen kann er Meinungen bündeln und diese zielgenau an die Politik adressieren und durch Branchenkenntnis auch punktgenau beraten.

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